Von der Verletzlichkeit zwischen Mensch und Natur

Verhüllt, eingegraben, unter Folien und Blättern verborgen, bestreut mit Samen und Kräutern, verloren in der Unendlichkeit, so liegen und stehen sie da, die Figuren der Marielis Seyler. Allein und wie verloren inmitten einer übergroßen Natur, ihr aber gleichzeitig zugehörig, unlöslich verbunden als Teil von ihr. Wie große Vögel ziehen sie über die Felsen, strecken ihre Flügel aus oder hängen in den Ästen kahler Bäumer, hocken auf der Erde wie in Mutters Schoß. Wie klein, wie unendlich klein ist der Mensch in der Urgewalt der Natur. Ausgeliefert trotz aller Versuche sie mit gewaltigen technischen Möglichkeiten und hohem Aufwand zu beherrschen, und doch gefangen im Missverständnis vom Unterwerfen der Natur.
Marielis Seyler geht diesem Missverständnis auf den Grund, dem Aufbegehren gegen die Naturgesetze, die trotz aller Wissenschaft und Forschung zu beherrschen unmöglich sind. Aber auch sie begehrt auf, will die Gegensätze auflösen, sucht Änderung und die Wahrheit hinter dem Traum von einer Versöhnung zwischen Ausgeliefertsein und Anpassung. Aber es ist nicht die Schönheit, oder die Geborgenheit, die sie sucht, sie will von der Verletzlichkeit erzählen, von der Kälte und Abweisung, sie macht klar, dass wir die Natur nie ganz verstehen und schon gar nicht sie völlig unterwerfen können. Dieses Spiel der Kräfte will sie zeigen, hier die Überheblichkeit der menschlichen Intelligenz, mit dem Anspruch auf Fortschritt, dort der Gleichmut der Natur mit ihren Gesetzmäßigkeiten aus unendlichen Zeiten. Auch ihre Bilder sind nur ein Versuch dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, im Dunkel das Licht zu finden.
In ihren überlegt komponierten Fotografien und knappen Texten will Marielis Seyler deutlich machen, dass wir unterliegen, wenn wir nicht still sind und zuhören, um die Stimme der Natur zu erkennen. Sie will mit den Mitteln der Kunst im klassischen Schwarz-Weiß der Fotografie ihr eigenes Verständnis schärfen, sie will die Zusammenhänge finden und mit ihren poetischen Bildern und Texten davon erzählen.
Die Samen auf den Augen des Mädchens sind der Beginn neuen Werdens, die Herbstblätter, die den Körper bedecken sind Symbole der Vergänglichkeit, der weiße Schleier, in den das Mädchen gehüllt ist, verbindet sie mit den Felsen, der Erde und den Bäumen. Es ist wie ein Aufbegehren und gleichzeitig die totale Hingabe. Sie will die Suche nach Einheit zeigen, sie will aber auch dokumentieren, dass wir trotz allem Aufbegehren und dem Wunsch nach Veränderung Teil der Natur sind, ihr bewusst oder unbewußt angehören – „Verbindung bis zum Eingraben“ sagt die Künstlerin.
Nur wenn wir uns ganz leer machen, werden wir zum Blatt, zum Stein, zum Wind, zur Quelle, zum Baum. Die Gesetzmäßigkeiten bleiben uns trotz aller Forschungen unbekannt, wir kennen nur Berechnungen, Statistiken, Möglichkeiten, das letzte Geheimnis wird nicht preisgegeben. Die Suche aber geht in Tiefen, die sich dem intellektuellen Wollen entzieht, sie gilt dem Eins-Sein mit der Schöpfung, mit allen Unwägbarkeiten, mit allem Irren und Scheitern, mit allen Wundern und allem Gelingen. Die Annäherung ist wie ein Ein- und Ausatmen und wir entdecken mit Überraschung, aber auch als Trost, dass wir trotz unseres Wissens, trotz aller Erkenntnisse Teil der Natur sind. Einsam und verletzlich vielleicht, aber auch stark, weil wir, denkend und fählend, Teil des Universums sind, Teil des ewigen Stirb und Werde der Natur.

Angelica Bäumer

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