Verletzungen

Sie betrachten diese Gestalt, und Sie entdecken daran zugleich die infernalische Kraft, die abscheuliche Zerbrechlichkeit, die Schwäche: die Unbesiegbarkeit der äußersten Schwäche (Marguerite Duras)

Beschäftigt man sich eingehender mit Marielis Seylers umfangreichen fotografischem Werk, kristallisiert sich ein künstlerischer Schwerpunkt heraus, der sich grundlegend mit dem weitgefassten Themenspektrum der Verletzung, des verletzt Werdens und des Verletzens befasst. Seit Anfang der Neunziger, nach der Wiederaufnahme ihrer fotokünstlerischen Tätigkeit, bestimmen die – zu einem gewissen Teil unbewusste– Auseinandersetzung und Sichtbarmachung unterschiedlichster Formen und Darstellungsmöglichkeiten von Verletzung ihre künstlerische Strategie, wobei der Spannung zwischen Natur und Kultur sowie dem Element des Zufalls eine nicht unwesentliche Rolle zukommen. Im vorliegenden Katalog traf die Künstlerin nun eigenhändig eine Auswahl aus ihren Arbeiten, um diesem durchgängigen Aspekt nachzuspüren und Vergleichsmöglichkeiten, aber auch chronologische Entwicklungen, offen zu legen.
Eine der frühesten Werkkomplexe, die schwerpunktmäßig im Zeichen der Verletzung stehen, entstand ab dem Jahr 1992 unter dem Titel "Natura Naturata". Ausgangspunkt für eine – in mehreren Hinsichten – künstlerische Transformation sind zufällig gefundene Tierkadaver aus dem näheren Lebensumfeld der Künstlerin. Diese von vielen als abstoßend oder abjekt empfundenen Funde bewahrt Marielis Seyler zur Inszenierung komplexer Meditationen über Sterblichkeit, Verletzung und Tod, letztendlich aber auch der Ewigkeit. Die Leblosigkeit dieser objets morts wird im fotografischen Abbild gesteigert, indem sie in heller, raumloser Umgebung aufgenommen kaum Schatten werfen, also keine körperliche oder leibliche Präsenz entwickeln, keine Spuren in die Welt zu werfen vermögen. Die Künstlerin hält sie in einem räumlichen Schwebezustand gefangen, sie scheinen nicht "geerdet", sondern schweben in einem artifiziell hervorgerufenen Zwischenzustand von Leben und Tod, der durch die Verfremdung der Fotografie hervorgerufen wird. Der reduzierende Aufnahmemodus entzeitlicht und enträumlicht die Fotografien soweit, dass sie sich einer objektivierten und verallgemeinerten Aussage öffnen, zugleich aber werden die Aufnahmen als Projektionsfläche für die weitere Überarbeitung mit Blauwurz, Erde, Wachs oder anderen Naturmaterialien, mittels derer Marielis Seyler intuitiv unterschiedliche Akzente in die Bilder setzt, vorbereitet. So markiert sie in der Fotografie eines toten Lammes mit rotem Wachs die Zentren der Verwundung, während in anderen Arbeiten der Serie die Verletzung oder Todesursache völlig ausgeblendet bleibt und stattdessen eine bedeckende, schützende Komponente durch die Überarbeitung in das Bild getragen wird. So etwa in der Aufnahme eines leblosen, am Rücken liegenden Vogels, über dessen gefiedertem Bauch ein hingehauchter Schleier aus blasser Blauwurz zu liegen scheint, der den toten Körper sanft umhüllt und nahezu zärtlich einpackt. Balsamiert für die Ewigkeit. Dem toten und schutzlosen Körper, dem zumeist nur Abscheu und Angst begegnen, wird so seine tiefgreifende Würde zurückgegeben. Denn trotz ihrer Ausgeliefertheit sind sie unantastbar, da mittels der Überarbeitung eine künstliche Barriere entsteht, die das Undarstellbare und Furchteinflößende erkennbar werden lässt. Der künstlerische movens hinter diesen Bildern scheint also, wie bereits Richard Milazzo formulierte, Marielis Seylers tiefgreifende Fähigkeit der empatheia, der Anteilnahme und des Einfühlungsvermögens in die verwundeten und ausgelieferten Körper zu sein. Die liebevolle Fürsorge, die sich in der Malerei zu äußern scheint, erweist sich nahezu als Projektion einer Seele, die selbst "balsamiert" werden möchte. Indem sich Marielis Seyler nun der toten Tiere annimmt, sie pflegt und verewigt, heilt sie ihre eigene verletzliche Seele, geschützt durch das Schild der Kunst. Abstoßendes und Unwertes wird von ihr auf eine ästhetische Ebene transformiert, wodurch sie auch eigene schmerzvolle Befindlichkeiten verarbeitet und trans- kribiert, die nun bildhaft gemacht von uns, den Betrachtern, Wertschätzung erfahren.
Das Motiv der verletzen Natur, die in künstlerische Überarbeitung gebettet wird, verbindet "Natura Naturata" mit der 1999 entstandenen Serie "Engravings". Extrem nahsichtig aufgenommene Ausschnitte von Baumstämmen bilden hier den fotografischen Ausgangspunkt der Arbeit, wobei der visuelle und zugleich inhaltliche Akzent, wie der Titel bereits vermuten lässt, auf den von Menschenhand eingeritzten und eingekerbten Spuren in der Rinde der Bäume liegt. Durch den Prozess des Überarbeitens mit roter Pastellkreide arbeitet Marielis Seyler diesen, in der "reinen" Fotografie bereits angelegten Aspekt, intuitiv präziser heraus: die intensiv rote Kreideschicht spart lediglich die figürlichen Einschlüsse der Ritzzeichnungen aus, die in ihrem bräunlichen Grundton, bedingt durch die Wahl von Packpapier als Bildträger, an Narben denken lassen. Durch das komplexe Ineinander mehrerer künstlerischer Vorgänge, dem Finden des Motivs, dem Fotografieren desselben, sowie dem Akt des Überarbeitens, gelingt es Marielis Seyler auch in "Engravings" in einfachsten und unauffälligen Dingen ihres Lebensumfeldes allgemeingültige Metaphern für menschliche Emotionalität, ja Seelenbilder zu schaffen. So können die Schnitte in der Rinde eines Baumes als Sinnbild der von Lebensumfeld und Mitmenschen geschaffenen Prägungen eines Menschen verstanden werden. Ganz ähnlich der Rinde eines Baumes speichert auch der Mensch, sowohl äußerlich, als auch in seinem tiefsten Inneren Verletzungen und andere emotionale "Zeichnungen". Aber wie die Rinde eines Baumes, scheinen uns die Fotobilder zu sagen, wachsen wir an und mit diesen Wunden und Verletzungen, so tief sie auch gewesen sein mögen.
Liegt das Hauptaugenmerk in "Engravings" optisch auf der Sichtbarmachung dieser Narben, wechselt die Verletzung in "Precious Objects" vom rein Motivischen in die materiell erfahr- bzw. erfühlbare Ebene des Papiers, womit sich ein nahezu leitmotivisches Thema Marielis Seylers im Zusammenhang mit Verletzungen manifestiert: dem Umgang und dem Experimentieren mit Oberflächen und deren Strukturen, welches sich bereits in "Natura Naturata" im Bearbeiten des Fotopapiers ankündigte.
In "Precious Objects" wählt die Künstlerin nun ein Transparentpapier als Bildträger, auf dem die Fotoemulsion aufgetragen wird. Durch den Entwicklungsvorgang erlangt das Papier eine lebendige, zum Teil gerissene – also verletzte – dreidimensionale Oberfläche, die dieser Serie den Charakter vergänglicher Foto-Objekte verleiht. Das Papier emanzipiert sich somit aus seiner Funktion als Trägermedium und wird vorrangig zum Sinnträger der, wie in den vorangegangenen Serien die eingearbeiteten Naturmaterialien oder Farben, die Fotografie in ihrer Ausdruckskraft stützt. Auf dem Papier entwickelte Marielis Seyler Aufnahmen von kahlen, teils vollständig entlaubten Bäumen ausschnitthaft oder in ihrer vollen Größe, im Zentrum des Papiers. In Schwarz-Weiß entspinnt sich so, durch das opake Weiß des Papiers nebelig verschleiert, ein grafisches Gespinst aus Zweigen und Ästen, das den Anschein berührender Zartheit und Fragilität erweckt, die in der Fotografie kaum zu fassen sind, sich immer wieder in einen gräulichen Nebel zurückziehen, auf der Ebene des Papiers aber wortwörtlich begreifbar werden. Auch hier vermag man wohl mehr von Seelenlandschaften zu sprechen, die als Foto-Objekt sinnbildhaft verlangen, in ihrer Verletzlichkeit behutsam gehandhabt zu werden, als von tatsächlichen, topografisch konkreten Landschaftsaufnahmen.
"Precious Objects" steht somit auch am Beginn einer neuen Phase der Auseinandersetzung mit Verletzungen. Hatte bisher eine beschützende und bewahrende Strategie wie etwa in "Natura Naturata" dominiert, so agiert Marielis Seyler nun selber als Verletzender indem sie das Papier zerknüllt, ihm Risse zufügt. In Folge entwickelt sie dieses Konzept stetig weiter zu einem Punkt, an dem sie die Verantwortung für die Verletzung an eine zufallsgeleitete Instanz abgibt. Zuvor untersucht sie aber an ihren, aus einer performancehaften Situation heraus entstehenden "Trampelbildern" den Umgang von ihr zumeist unbekannten Menschen mit Verletzungen. Diese Serie besteht aus großformatigen Fotografien mit von Marielis Seyler selbst ausgewählten Motiven. Bewusst wählt die Künstlerin Objekte, die gemeinhin als zerbrechlich, zart und verletzlich gelten, etwa eine Ansammlung unterschiedlichster Schneckenhäuser oder ein schutzloses Kleinkind, das über das Papier zu krabbeln scheint. Diesen wird nun Gewalt angetan, indem etwa Gäste eines Kaffeehauses, das Schauplatz einer der Performances war, über die ausgelegten Papiere gingen und Flüssigkeiten darüber verschütteten. Diese Spuren tragen letztendlich formal zur Komposition bei und ersetzen die gestischen Verfremdungen in Marielis Seylers früheren Fotobildern. Die Künstlerin selber nimmt sich nun völlig aus diesem Prozess des Überarbeitens heraus und zieht sich auf eine Position des reinen Betrachtens zurück, wie die Menschen mit ihren Aufforderungen, etwa auf ein Kleinkind zu treten und es visuell mit Schuhabdrücken zu verletzen, umgehen. Der Abbildung einer Skulptur von Maria Theresia kommt hierbei eine besondere Rolle zu, da deren "Bearbeitung" von Marielis Seyler durch mündliche Handlungsvorgaben an eine zweite Person gelenkt wurde. Die Überarbeitungen, die rein im Moment und aus der Aktion realisiert wurden, scheinen sich mit der österreichischen Kaiserin als vorbildhaft starke Frau und Autoritätsperson auseinander zu setzten, wobei sich ambivalente Gefühle ihr gegenüber in den Bearbeitungen niederschlagen. So umgibt ein orangegelber Nimbus den Kopf der Dargestellten, auf der anderen Seite ist ihr Körper jedoch von Kratzspuren und tätlichen Angriffen gezeichnet.
Während sich der Zufall bis dato noch als vorrangig intuitiv gelenkt erwies bzw. in den Kontext einer alltäglichen Handlung eingebettet war, ändert sich diese Komponente in der letzten Serie, die Marielis Seyler für diesen Katalog auswählte, grundlegend. Ausgangspunkt ihrer "Open-Air Bilder" sind erneut großformatige Papiere, auf deren Oberfläche Aufnahmen von Objekten entwickelt wurden, die Marielis Seyler in Natur und Landschaft der näheren Umgebung fotografisch "aufgelesen" hat, etwa ein Vogelnest aus Zweigen und Gras. Anstatt jedoch mit eigenen künstlerischen Mitteln die Struktur der Bilder weiter zu verändern, überlässt die Künstlerin den Transformationsprozess diesmal ganz den natürlichen Vorgängen in der Natur: Die Papiere wurden in den Garten gebreitet und so der Witterung und dem Zugriff der frei lebenden Tiere ausgesetzt, die am Papier nagten oder Löcher fraßen. Begann das Thema der Verletzungen mit verwundeter Natur in Gestalt toter Tiere, die mit rein künstlerischen Mitteln gewissermaßen gepflegt wurden, so beschließt der Katalog in den "Open-Air Bildern" eine Entwicklung hin zur Rückkehr zur Natürlichkeit, zur formgebenden Gestaltungs- kraft der Natur. Auch inhaltlich schließt sich ein Kreis, indem die vormals verletzte Natur nun selber Verletzungen zufügt und zerstörerisch wirkt, die "Open-Air Bilder" aber gewissermaßen auch ein Sinnbild der Versöhnung sind, in denen Marielis Seyler vorführt, dass Verletzen und verletzt Werden letztendlich Teil eines natürlichen und notwendigen Kreislaufs des Lebens sind.

Maria Schindelegger
Wien, 2003

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