Natur als Philosophie
Die alten Diskurse kehren zurück, aber jede Wiederholung ist, wie uns die Philosophie von Jacques Derrida vorführt, zugleich eine Variante, wenn nicht gar eine Variation, die das Frühere, Wiederholte nicht einzuholen vermag. Die unzähligen Publikationen zum Thema Natur aus den 1970er- und 1980er-Jahren, die der umweltaktiven Jugend von heute gänzlich unbekannt sein dürften, rücken wieder in den Vordergrund; Bücher, die sich mit Philosophie, Gesellschaft, Ethik, Ästhetik und Kulturgeschichte im Umfeld der Fragen nach der Natur befassten und den gesellschaftlichen Diskurs dieser Zeit bestimmten, kehren zurück. Zwar war Natur in den vergangenen Jahrzehnten niemals völlig verschwunden, blieb aber in seiner Präsenz unverkennbar im Hintergrund.
Natur als Philosophie ist ein seltsamer Titel für einen Essay, schillernd und vieldeutig, so als ob Natur und Philosophie nahtlos ineins fielen, so als ob es darum ginge, dass die Natur nicht nur zur Herausforderung für sie würde, sondern auch selbst zur Philosophie wird. Die Konnotationen sind vielfältig: Ort der Natur in der Philosophie, Möglichkeit einer Philosophie der Natur, Natur der Philosophie im genitivus subjectivus wie im genitivus objectivus. Gefragt wird nach der »natürlichen« Beschaffenheit der Philosophie, aber auch danach, wie die Philosophie die Beschaffenheit der Natur denkt bzw. gedacht hat. Geistesgeschichtlich katapultiert uns das Thema Natur als Philosophie beinahe unweigerlich in die Jahrhundertwende zum 19. Jahrhundert zurück, in die Epoche von Romantik und Idealismus, unter deren Vertretern es kaum einen Dichter und Denker gab, der sich nicht mit Naturphilosophie befasst hätte.
Natur ist, wie sein scheinbares Gegenstück Kultur, ein mächtiges und großes, vielleicht ein übermächtiges und zu großes Wort: »Natur das ist ein Wort, das man in den Sand schreiben kann, ein Wort zum Spielen und zum Grübeln, eine Einladung zu den verschiedensten Assoziationen.« Verwirrend bleibt, was alles Natur sein kann: Urzustand, Tier- Pflanzenwelt, das scheinbar unverwüstliche Gestein, das Organische, das Körperliche, das Unbewusste, die Landschaft, der Urwald. Aber auf gewisse und prekäre Weise auch wir selbst. Was uns heute allesamt beschäftigt, ist die Verletzbarkeit der Natur, der äußeren wie der inneren. Sie bildet auch den Kern und das Zentrum des Œuvres von Marielis Seyler. Verletzt und bedroht erscheinen uns, den Bewohnerinnen und Bewohnern einer postindustriellen Welt, die uns umgebenden Lebewesen, bestimmte Tierarten und die organische Welt der Pflanzen, summarisch auch die Landschaften und Naturwelten, zu denen jene gehören und in denen sie leben. Letztendlich ist auch die Wüste, Inbegriff eines verletzten Areals, Natur, nämlich ein beeindruckendes und in seiner Unermesslichkeit erhabenes Biotop, schon wegen des Tatbestandes, dass es auch hier Lebewesen, grüne Oasen und Landinseln gibt.
Das Wort Natur befindet sich üblicherweise in binärer Opposition zu einem anderen Makrobegriff: Kultur. Beide Begriffe leben gleichsam ex negativo in einer merkwürdigen Symbiose miteinander, bedeutet doch Kultur zunächst nichts anderes als die Bearbeitung (von Natur und Boden). Das biblische Narrativ vom Paradies, aus dem der Mensch vertrieben wurde, ist keine Urwildnis, sondern ein Garten – Bild einer geglückten Interaktion von Natur und Kultur, friedlich, harmonisch und ohne Ausbeutung, Tod, Verletzung und Vertilgung alles Seienden. Gott, der Demiurg des sesshaften Menschen, schafft die Natur als einen harmonischen Garten. Der Tiergarten, der Park oder die Welt der Stofftiere sind scheinbar sanfte Formen solcher Aneignung des Kreatürlichen. Im Stofftier, in der Tierfabel wie im Tierpark ist die Macht des realen und gefährlichen Raubtieres, etwa des Löwe, scheinbar ein für allemal wie magisch gebannt.
Wie viel Natur ist in Kultur, wie viel Kultur ist in Natur? Die Welt außerhalb des Paradieses ist nicht selten von unbarmherzigen Oppositionen bestimmt. Alles, was der Mensch geschaffen hat, ist Kultur, alles, was er nicht geschaffen hat, Natur, also auch er selbst. Womöglich hat der Mensch die Natur als umfassendes Gegenstück zu sich selbst geschaffen, als Wort, als Symbol, als Begriff, als Projektionsfläche oder als feindliches Terrain, auf dem er sich Vorgefundenes außerhalb aber auch innerhalb seiner selbst anzueignen versucht.
Umgekehrt trachtet das Andere, das Gegenüber des Menschen‚ die »Natur«, in Gestalt von Katastrophen, Epidemien und zäher Dynamik des Wachsens danach, sich all das potenziell zurückzuholen, was der Mensch sich in Gestalt einer scheinbar gesicherten Kulturwelt geschaffen hat. Der Mensch lebt unter der Drohung, dass das, was der Philosoph Hans Blumenberg den »Absolutismus der Wirklichkeit« bezeichnet hat, zurückkehren könnte. Für Georg Simmel ist die Ruine jene Erscheinung im Zwischenbereich von Natur und Kultur, in der sich das Dasein der »bloßen Naturkräfte« manifestiert.
Ganz anders nehmen sich die Ingenieurskräfte des Industriezeitalters und der postindustriellen Epoche aus, in der die Natur, einschließlich die menschliche, vornehmlich nur als Ressource und als Objekt vorkommt. Beides ereignet sich zugleich: eine nie zuvor gekannte perfektionierte Ausbeutung und Vernichtung von Natur in all ihren möglichen Formen und Bedeutungen und eine sentimentale Anhänglichkeit an sie und das Gefühl, dass wir der Resonanz der vielgestaltigen Natur für unsere Befindlichkeit und für ein gelingendes Leben bedürfen. Dass diese Natur längst nicht mehr »ursprünglich« ist (was sie ja wohl auch nie gewesen ist), hält uns keineswegs von unserer Liebe zur domestizierten Natur zu Haustieren, Begehungen der Kulturlandschaften oder von der Nutzung raffinierter »natürlicher« Kulturtechniken ab, die uns unsere Natur in Gestalt von Körper und Seele – Atem, Herzschlag, Bewegung – spüren lassen.
Die Herkunft des lateinischen Wortes Natur liefert womöglich einen Fingerzeig für seine Doppelgestaltigkeit, leitet es sich von dem Verb nasci ab, das entstehen, geboren werden bedeutet. Damit kommt ein dynamisches Moment ins Spiel, dem insbesondere die deutschen Romantiker ein zentrales Augenmerk geschenkt haben. Natur lässt sich nämlich – gewichtiges Thema bei Marielis Seyler – nach zwei Bedeutungen hin aufspalten. Zum einen begegnet sie uns als Gestaltenwelt, als Vielfalt des »Seienden« (Heidegger), zum anderen verweist sie auf eine unsichtbare Kraft, die aus dem Nichts Gestalten und Wandel hervorbringt: natura naturata und natura narrans, geschaffene und schaffende Natur. Die hervorbringende Kraft der Natur, die creatio ex nihilo ist es, die die Romantiker des 19. Jahrhunderts und die Vorläufer unserer gegenwärtigen Diskurse anhaltend beschäftigt und beeindruckt hat. Romantiker wie Novalis, der junge Friedrich Schlegel oder auch Schelling, der Weggefährte und Konkurrent Hegels, waren Meister der Analogie. In ihren Denkversuchen wird die Natur selbst aufgrund ihrer hervorbringenden Kraft zu einer Kunst/Kultur, die aus sich selbst und ganz unbewusst, also aus eigener Kraft eine vielfältige Welt hervorbringt, ebenso wie der Künstler in seinem Schaffen. Nicht nur jeder Mensch, sondern die Natur insgesamt ist eine Künstlerin. Das Kunstvermögen der Natur und das des kunstschaffenden Menschen werden zu einem Analogon und zugleich zum Teil einer Evolution, die bei Schelling in der bewussten Schöpfung menschlicher Kunstwerke gipfelt, in der sich die Dynamik der Natur offenbart. Natur als Philosophie. Aber vor allem: Natur als Kunst.
Schellings systematische Naturphilosophie entwirft vor Darwin ein freilich ganz anderes Konzept von Evolution, das die dunkle Materie mit dem hellen Bewusstsein in einen dynamischen Zusammenhang bringt. Von Alpha zu Omega. Die Natur debütiert gleichsam bewusstlos, sie ist das Unbewusste schlechthin. Sie vollzieht eine Metamorphose, an deren Ende der Mensch steht. Im Menschen wird die Natur sich gleichsam ihrer bewusst. In dessen Bewusstsein erblickt sie sich selbst, wird ihrer gewahr. Insofern steht der Mensch nicht im Gegensatz zur Natur, sondern ist deren beredter Ausdruck, gleichsam eine entwickelte Form von Natur. In diesem Holismus löst sich der Gegensatz von non-humaner Natur und humaner Kultur vollständig auf. Bemerkenswerterweise gibt Schellings System des transzendentalen Idealismus der Kunst den Vorrang gegenüber der Philosophie. Die Kunst ist intellektuelle Selbstanschauung, aber über die Philosophie hinaus zeigt sie in ihrer Analogie zur natura naturans, zur schaffenden Natur, auch die dynamische Innenseite jenes Unbewussten, mit dem die Natur bei Schelling zusammenfällt. Aber dieses Unbewusste ist zugleich ein latentes Bewusstes, das sich durch Philosophie und Kunst zeigt und damit zum Vorschein kommt. So steht das Bewusstsein nicht am Anfang der Genese von Natur, Pflanze, Tier und Mensch, sondern am Ende einer Evolution, in der Natur sich im Medium des Menschen selbst erkennt. In diesem schwindelnden panentheistischen Denksystem, in dem »Gott« in Allem und Alles in »Gott« ist, fallen Transzendenz und Immanenz letztendlich zusammen. Wenn es denn Göttliches gibt, so beginnt dieses sein Werk völlig unbewusst. Gott weiß nicht, was er tut, er schlummert, wenn er die Welt erschafft, indem er sich wie einst der künstlerische Mensch entäußert, um zu sich zu kommen. Das Ergebnis dieser Schöpfung ist konsequenterweise ein Kunstwerk. Der durchaus narzisstische Gott des jungen Schelling kommt erst spät zur Welt und manifestiert sich in der Fülle der Natur. Von Schellings romantischem Rivalen Novalis stammt die die heute seltsam anmutende Definition der Physik als einer Lehre von der Phantasie. In späteren Jahren, in seinem Überblickswerk Zur Geschichte der neueren Philosophie, hat Schelling diese für seine Zeit so radikale Theorie der Natur selbst verworfen, weil sie mit dem christlichen Monotheismus unvereinbar sei.
Was den romantischen Erfindern einer ganz neu verstandenen Natur vorschwebt, das ist ein völlig neuer Umgang mit den uns geläufigen Binaritäten. Die Opposition Natur versus Kultur ist die mächtigste, darunter befinden sich Gegensatzpaare wie Mensch und Tier, Vernunft und Gefühl, Bewusstsein und Unbewusstes, Mann und Frau, Erwachsener und Kind. Die widerstreitenden Momente des Natürlichen werden nicht vollständig aufgelöst, aber doch sanft umgestoßen, durch die Denkfigur der Analogie, durch Überlappungen oder durch Umdeutungen zu voneinander abhängigen Polen, die sich nicht feindlich gegenüberstehen, sondern viel eher eine produktive Spannung erzeugen, die eine statische Harmonie unterbindet, die frühere statische Naturlehren auszeichnete.
Eine solche Denkweise war und ist bis zu einem gewissen Grad selbst heute noch neu. Sie zielt darauf ab, anders zu denken und anders zu handeln, nämlich mitgestaltend. Wie später bei den amerikanischen Romantikern Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau, der Mahatma Gandhi ebenso inspiriert hat wie Martin Luther King, ist bei den deutschen und englischen Romantikern, die ganz klare Vorstellung vorhanden, dass ihre Natur als Philosophie eine kulturelle Gegenwelt beinhaltet, sind sie doch alle mit der philosophischen Kampfformel Rousseaus »Zurück zur Natur« sozialisiert worden. Vor dem Hintergrund der sich abzeichnenden unerhörten Veränderungen der zunächst okzidentalen Gesellschaften und Kulturen in Gestalt von Industrieproduktion, Wissenschaft und Medialisierung kündigt sich in ihrer Naturphilosophie bereits eine geistige Gegenwelt an. Ein Unbehagen in der Kultur meldet sich an, das Sigmund Freud viel später kritisch beleuchtet hat. Es geht einher mit dem Lebensgefühl, in eine vertrackte, falsch geratene Welt geraten zu sein. Die Bezugnahme auf die Natur als Philosophie bildet dabei den unverzichtbaren Horizont für ein Leben, das sich bescheiden und das Projekt der Überwindung der Natur in einer zweiten, nunmehr menschlichen Schöpfung verabschieden möchte. Eine solche Philosophie ist freilich nicht »natürlich«, sondern Teil einer kulturellen Evolution, die an einem speziellen und kritischen Punkt von deren Entwicklung beansprucht wird. Moderne Naturphilosophie setzt diese freilich voraus: Denn erst durch die Distanz, die sich der Mensch im Prozess seiner Evolution zu sich selbst und der ihn umgebenden Welt verschafft, wird Natur als Philosophie, als Ethik möglich, die unsere durch Umweltschäden und Klimaprobleme, durch Raubbau und das Aussterben von Tier- und Pflanzenarten bedrohte Welt kritisch in Augenschein nimmt und eine Umkehr einfordert, deren gesellschaftliche Folgen freilich unabsehbar sind.