Memento mori

Anmerkungen zu den Arbeiten von Marielis Seyler

Üblicherweise bleibt der Tod in den alltäglichen Betrachtungen ausgeklammert und er findet auch in den üblichen Gesprächen nicht statt. Meist nur aus gegebenem Anlass, wenn ein Verwandter oder Bekannter – wie es fast der Regel zu nennende Fall ist – in einer sterilen Klinik einsam stirbt, wird über die letzte Reise gesprochen. Als Ursache dafür mag die Verdrängung des Todes angesehen werden, die ihre Wurzeln im Schwund des Religiösen, in der Lockerung der Familienbande, in der Auflösung gewachsener Lebenszusammenhänge, in der zur Anonymisierung führenden Verstädterung und im Rückzug auf das einzelne Individuum hat. Dennoch gelingt es nicht, den Tod zum zufälligen Betriebsunfall umzudeuten. Das Leben definiert den Tod und dieser seinerseits das Leben, auch dann, wenn man die Zusammenhänge nicht wahrhaben will. Es ist keine Übertreibung zu behaupten, Mythen und Märchen haben von der Existenz vom vorübergehend suspendierten Tod stets gewusst. Im Märchen wird er häufig herbeigesehnt, um den Unbilden des Da- und Hierseins ein für alle Mal ein tatsächliches Ende zu setzen. Im Mythos hingegen ist der Tod die strikte Lebensnotwendigkeit: Erst durch ihn und nur durch ihn kann neues Leben entstehen. Durch den Tod beginnt –
stark vereinfachend gesagt – die (Wieder-)Geburt der Welt.

Die Arbeiten von Marielis Seyler sind Dialoge mit den Zuständen des Vergehens. Sie bietet kein Patentrezept in einer Zeit, die keine allgemeingültige Verbindlichkeit des Ausdrucks kennt. Ihre Arbeiten lösen durch die fotografische Darstellung von Tieren eine unmittelbare Betroffenheit aus, da der Betrachter zum Zeugen gemacht wird, wie sich deren Körperlichkeit auflöst. Allerdings beschwört Seyler keinen Natursymbolismus, der sich in einer verschleiernden Hyperschönheit ergeht, dafür gestattet sie sich einen klinisch sauber – nicht steril! – zu nennenden Blick auf die Vergänglichkeit. Gesteigert wird diese Darstellung durch die Einbeziehung großer weißer Flächen, die den Blick auf den Zersetzungsprozess eines Körpers zwangsläufig fixiert. Um die Dramatik noch zu steigern, setzt sie behutsam Naturmaterialien wie Erde, Ruß, Wachs auf ihre Fotografien – Materialien, welche die Verletzung, die Wunde gleichsam modellieren. Das verleiht den Arbeiten eine geheimnisvolle Bedeutung, die sich durch die fotografisch exakte Wiedergabe allein nicht ergeben könnte.

Das ausgehende 20. Jahrhundert kannte keine verbindliche Ikonografie des Todes, und auch während der ersten beiden Dezennien des 21. Jahrhunderts hat sich keine entwickelt. Die visuelle Sprachlosigkeit wäre ein Thema, um ganze Buchreihen zu füllen! Die medial vermittelten Bilder wie Sonnenuntergänge, Wege in einen weiten Horizont, bereifte Blüten, verdorrte Rosen, nächtliche Monde, Wolkenstimmungen, entlaubte Alleen usw. verraten die Hilflosigkeit. Im scharfen Gegensatz dazu werden ununterbrochen Bilder von sterbenden Menschen und Katastrophendarstellungen zu allen Uhrzeiten über die Fernsehkanäle in die Wohnzimmer gejagt. Doch das von der Unterhaltungsindustrie produzierte visuelle Fast Food kann die individuelle Auseinandersetzung mit dem Tod nicht ersetzen. Auch die Berichte samt ihren Bildern von aussterbenden Tieren, von bedrohten ökologischen Nischen und der Verarmung an Arten erreichen nicht die tiefen psychischen Regionen des Menschen, können ihn nicht dazu bewegen, sich mit der eigenen Zukunft als Sterblicher und dadurch auch Sterbender auseinanderzusetzen. Im Gegenteil. Viele Menschen wollen ihre Nahrungsmittel so hergerichtet kaufen, dass nichts, aber schon gar nichts an die frühere Körperlichkeit des Tieres erinnert.

Marielis Seyler stellt sich dem Thema des Vergehens, allerdings nicht im Sinne einer ars bene moriendi heute, nicht im Sinne der Frage, wie können Menschen bei voller Gesundheit das Sterben lernen, sondern im Sinne des Anspruchs auf Würde, der Sehnsucht nach Nähe und einem anderen Umgang mit sich selbst. Aus diesem resultierte auch ein anderer Umgang mit der Welt, der notwendig geworden ist, seitdem die Anrufung von Schutzheiligen, die einem Frommen in seiner Agonie zumindest der Empfindung nach beigestanden sind, nicht mehr zur Verfügung stehen. Als im Jahr 1572 das Ave Maria um den Flehruf »Bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes« erweitert wurde, konnte der Gläubige das Gefühl entwickeln, in seiner schweren Stunde würde Maria ihren Mantel ausbreiten und helfen. Dieser Weg ist in einer Gesellschaft, die sich weitgehend von der Religion verabschiedet (hat), nicht mehr beschreitbar. Darum sind individuelle Auseinandersetzungen mit dem Thema Vergehen bedeutungsvoll, auch dann, wenn sie keine allgemeingültigen Aussagen treffen wollen und auch nicht können.

Das Zurücklassen traditioneller religiöser Vorstellungen, die die Menschen als Teil der sie umgebenden Welt sah, bot den Vorteil, dass mit der Um- bzw. Mitwelt in distanzierter Weise verfahren werden konnte. Man brauchte sich bei keiner Gottheit für die Gnade zu bedanken, dass ein Beutetier erlegt werden konnte. Man brauchte keine Zeremonien, welche um Regen bitten sollten. Es ist nur ein Irrtum zu meinen, dass durch das Zurücklassen traditioneller religiöser Vorstellungen die Menschheit areligiös geworden ist. Das Gegenteil ist der Fall: Die herrschende Religion ist der Kapitalismus, und Geld wurde zum alleinigen Gott. Und dieser Gott ist ein gnadenloser Gott, weil er auf Gewinnmaximierung ausgerichtet ist. Er ist so stark, dass er auf alle Zeremonien und Gebete verzichten kann. Er herrscht absolut und unterwirft sich den Menschen und dessen Welt in einer Weise, die es bisher noch nie gab. 

Ein Ausdruck seiner Herrschaft ist, dass er sich nicht als Persönlichkeit zu erkennen gibt, sondern mit dem Symbol zusammenfällt: in Münzen und Banknoten sowie in Zahlenkolonnen. Durch diesen neuen Gott hat in den letzten Jahren das Thema der Vergänglichkeit neue ungeahnte Dimensionen angenommen. Es geht nicht mehr nur darum, dass einzelne Tiere wegen des natürlichen Todes aus der Landschaft verschwinden, sondern um das Abhandenkommen von ganzen Arten und Spezies. Der Vorgang beschleunigt sich in einer Weise, dass auch Menschen, die keine Fachleute sind, diesen erleben können. Die von den Insekten auf Wiesen aufgeführten natürlichen Symphonien sind bei Weitem nicht mehr von der früheren orchestralen Breite durchdrungen. Die natürlichen Fressfeinde der Insekten, die Vögel, werden ebenfalls immer seltener. Mit einem Blick, der etwas weiter sieht, lässt sich ohne Übertreibung sagen, die vielen fein gesponnenen Netze, welche die einzelnen Tiere durch die Evolution miteinander verbanden, werden immer löchriger. 

Um es mit der in der Biologie verwendeten Systematik zu sagen: Wenn eine Familie dadurch ärmer wird, dass aus einer Art eine Gattung verschwindet, wird das Netz, das die Natur über die jeweiligen Lebensräume gelegt hat, nicht gleich zerreißen. Doch zu viele Löcher lassen sich nicht rasch schließen. Auch die Evolution braucht hinreichend Zeit, um auf die neuen Verhältnisse entsprechend zu antworten. Verschwinden nun Arten und Spezies für immer, wird plötzlich jede Darstellung eines Lebewesens zu einem Memento mori, zu etwas Besonderem, weil es noch einmal angeschaut und in seiner Eigenart erkannt wird. 

Das künstlerische In-Augenscheinnehmen ist ein Vorgang der Zärtlichkeit, der diametral der Brutalität der Ausrottung gegenübersteht. Von welcher Größe das Problem des Aussterbens ist, lässt sich mühelos zeigen: Die Zahl der gefährdeten Tierarten nimmt bekanntlich weltweit kontinuierlich zu. Die Internationale Union zur Bewahrung der Natur und natürlicher Ressourcen (IUCN) veröffentlichte 2018 eine Version ihrer Roten Liste, in der gefährdete Tier- und Pflanzenarten gesammelt werden. Auf dieser Rote Liste gefährdeter Arten standen mehr als 13 000 Tierarten. Biologen beschreiben eine stets sich schneller drehende Abwärtsspirale der Vielfalt und belegen dies durch Datenmaterial. In ihrer aktualisierten Roten Liste vom 9. Juli 2020 erfasst die Weltnaturschutzunion (IUCN) nun 32 441 Tier- und Pflanzenarten als bedroht. Das sind mehr als jemals zuvor. Christoph Heinrich, Vorstand Naturschutz beim WWF Deutschland sagt: »Es ist das größte Artensterben seit Verschwinden der Dinosaurier.« Und dieses Artensterben ist wie ein globaler Flächenbrand, der den Feldhamster ebenso betrifft wie den Atlantischen Nordkaper, einen Glattwal, den Eisbären und mehrere Lemurenarten. In diesem Arten-Gau spielt die Menschheit eine unrühmliche Rolle: einerseits durch die Zerstörung der Lebensräume, was die Beseitigung der Grundlage für funktionierende Ökosysteme bedeutet, andererseits kann nur eine intakte Natur Nahrung, sauberes Wasser und Rohstoffe liefern sowie das Klima regulieren und ein Bollwerk gegen Krankheiten und Pandemien sein.

Die Arbeiten von Marielis Seyler zielen auf die Selbsthumanisierung des Menschen. Diese führt zwangsläufig zu immer neuen Fragestellungen und Geheimnissen, die sich häufig (noch) nicht in Worte fassen lassen. Das genau ist das Thema von Marielis Seyler: die Darstellung des noch nicht Sagbaren, noch nicht Benennbaren und das Zeigen der eigenen Irritation, der eigenen Verletzlichkeit, wenn das Wort versagt oder noch nicht gefunden worden ist.

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